Dr. Marianne Jansen Dezember 2006

 

Liebe Freunde und Förderer des Khejri – Vereins,

 

seit nunmehr elf Jahren erwarten und bekommen Sie am Ende des Jahres einen Bericht über unsere Arbeit in Jagatpura/Rajasthan, auch in diesem Jahr. In diesem Jahr jedoch sind die Nachrichten weniger erfreulich als zuvor. Die neue Straße, deren Bau stets wie eine Bedrohung über uns schwebte, wird im kommenden Jahr Wirklichkeit. Alle rechtlichen Mittel sind ausgeschöpft, alle Vorschläge, die wir zur Änderung des Verlaufes oder der Ausdehnung der Fahrbahnen und des Mittelstreifens gemacht haben, hatten leider keinen Erfolg: da wo zur Zeit noch Patienten von uns behandelt werden, werden wohl künftig Autos fahren. Die meisten Menschen, die wir im Laufe der vergangenen Jahre ansprachen und in unsere clinic einluden, äußerten sich positiv und sympathisierend über unsere Arbeit, keiner jedoch wollte oder konnte das (von der Weltbank finanzierte) Straßenprojekt ändern. Bei uns vorbei wird es zu einer neuen Siedlung gehen, mit 5000 Reihenhäusern (und somit mindestens 20 000 Bewohnern), gebaut wurde von einer Wohnungsbaugesellschaft, die die Reihenhäuser an Privatleute verkauft. Indien hat eine ständig wachsende Mittelklassengesellschaft, ein Slumgebiet ist hier nicht zu erwarten. Jenseits der Eisenbahn sind große, teure Villen entstanden, auch hier leben keine Patienten mehr, die unserer (kostenfreien) Hilfe bedürfen.

Die Kleinbauern und Tagelöhner, für deren Familien unsere Hilfe ursprünglich gedacht und begonnen worden war, sind aus dieser Gegend weitgehend verdrängt worden. Soweit sie ihre Kompensationszahlungen zur Neugründung einer Existenz benutzt haben, haben sie diese weiter landeinwärts, in größerer Entfernung zur Stadt Jaipur realisiert. Dorthin können und wollen wir – Jansens und Unnithans – nicht mehr folgen. Nach all der Zeit im Khejri – Projekt fühlen wir uns nicht mehr jung und leistungsfähig genug, um in einem Bereich ohne Infrastruktur komplett neu zu beginnen und erneut den Kampf gegen Behörden, Verständnislosigkeit, Mißwirtschaft und Korruption aufzunehmen.

Wir haben uns daher entschlossen, die Entschädigungszahlung, die wir von Staat für den Verlust des Hauses und Geländes bekommen werden, nicht für einen Neubau in dieser Gegend zu verwenden. Die mobile Versorgung wird weiter laufen, d.h. unser Wagen wird täglich zu den entsprechenden Standplätzen in den Dörfern fahren, um dort wenigstens eine basismedizinische Versorgung zu gewährleisten. Patienten mit komplizierteren Krankheitsbildern werden wir von dort in Krankenhäuser oder zu Spezialisten überweisen müssen. Sollte doch noch ein kleiner Teil des Gebäudes – meine jetzige Wohnung -  verschont werden, können wir dort wenigsten die Schwangerenvorsorge und eine kleine gynäkologische Behandlungseinheit aufrecht erhalten, eventuell kann hier auch am Sonntag der Augenarzt und an einem Tag der Woche der Hautarzt eine Sprechstunde abhalten. Diese „Rumpflösung“ wird in erster Linie vom Ausmaß des verbleibenden Gemäuers abhängen, endgültig können wir dazu erst Stellung nehmen, wenn das Gebäude wirklich fällt. Sie würde auch bedeuten, daß ich nur noch seltener vor Ort arbeiten werde.

Der Rest des in Indien vorhandenen Geldes wird in eine Stiftung einfließen, die auf Antrag hin die Kosten für teure Behandlungen oder Operationen bei mittellosen Patienten übernimmt. Als Ansprechpartner steht hierfür weiterhin der Khejri – Trust zur Verfügung.

Die noch beim Khejri – Verein in Bremen vorhandenen Gelder sollen zum Teil auch in diese Stiftung einfließen, zum Teil auch Institutionen zukommen, die ähnliche Grundsätze haben wie wir. Im Oktober und November haben mein Mann und ich mehrere solcher Institutionen besucht und eine Liste erstellt, über die der Vorstand des Khejri – Vereins entscheiden soll. Sobald hier irgendwelche Beschlüsse gefaßt worden sind, werden wir sie selbstverständlich sofort unterrichten, natürlich auch, wenn mit dem Abbruch des Klinkgebäudes begonnen werden sollte. Feste Zeitpläne gibt es nicht, auch das Ausmaß ist nicht klar. Der Kommentar meines Mannes war schon etwas sarkastisch: offensichtlich entscheidet der Baggerführer über die Ausführung!

 

Ungeachtet dieser Probleme geht die Arbeit in unserem Zentrum weiter. Die Anzahl der Patienten ist nach wie vor hoch und die Bedürftigkeit bei den wirklich armen Leuten groß. Besonders in den Monaten September und Oktober herrschte in Nordindien eine Epidemie von Denguefieber und „chikungunya“. (Für letzteres ist mir keine englische oder deutsche Übersetzung bekannt.) Die indische Regierung hat zwar versucht, den Begriff „Epidemie“ zu vermeiden, mir fällt aber kein anderes Wort ein, um 3407 Erkrankungs- und 46 Todesfälle zu beschreiben. (Die Dunkelziffer wird noch höher sein!) Beide Viruserkrankungen werden durch die Aedes aegypti Mücke übertragen, die im Gegensatz zur Malaria übertragenden Anopheles Mücke auch am Tage fliegt und sticht. Moskitonetze sind daher von begrenztem Nutzen.  Allerdings ist der Aktionsradius des Insekts recht beschränkt, beträgt nur etwa 200 – 300 m; somit sind die Infektionsquellen in der nahen Umgebung der Patienten zu suchen.

Die Brutplätze der beiden Mückenarten sind identisch: Tümpel, Pfützen, offene Wassergefäße, wasserhaltige „cooler“, die als Ersatz für eine Klimaanlage fungieren. Neben der Behandlung der Patienten, die leider nur symptomatisch möglich ist, geht es also in erster Linie darum zu erläutern, wie eine Infektion der noch Gesunden zu vermeiden ist. Theoretisch ist das kein Problem, bei der praktischen Umsetzung treten die Schwierigkeiten auf. Überall in diesem Land gibt es Wasserpumpen, in deren Umgebung Pfützen stehen bleiben, Plastiktüten und alte Autoreifen, in denen sich Wasserreste finden, Blumentöpfe, Wasserbehälter, die seit Jahren nicht gereinigt wurden. Pikanterweise hat sich gerade das All India Institute of Medical Science, das medizinische Vorzeigeobjekt der Hauptstadt,  als Brennpunkt der Erkrankung herausgestellt. Ärzte, Studenten und anderes medizinisches Personal erkrankten und starben, weil die Abwasserkanäle der Wohnheime unbedeckt sind, weil sie in nicht instand gehaltene Sammelbecken fließen, weil die Wassertanks auf dem Dach ergiebige Brutstätten abgeben. Die Wassertanks anderer Krankenhäuser zeigten ähnliche  Befunde. Um die Sache weiter zu komplizieren, waren die Temperaturen im September und Oktober noch außergewöhnlich hoch, am 07. Oktober verzeichnete Jaipur am Tage noch 40°! Erst mit fortschreitendem Herbst und „Winter“ ist mit einer Abnahme der Erkrankungen zu rechnen. Dann gibt es wieder mehr Erkrankungen der Atemwege, - über Arbeitsmangel haben wir hier nicht zu klagen.

 

Ich möchte Ihnen noch Raziya vorstellen, ein junges Mädchen, das wegen einer Mitralstenose in unsere Behandlung kam. Die Stenose war so hochgradig, daß die Patientin operiert werden mußte. Es gelang aber, die einzelnen Klappensegel voneinander zu trennen, so daß keine künstliche Klappe eingesetzt werden mußte. (Eine kontrollierte Antikoagulantien Behandlung ist hier auf dem Lande so gut wie nicht durchführbar.) Raziya hat sich gut erholt, kann schon wieder Strecken von ca.1000m laufen und fühlt sich natürlich viel besser als zuvor. Wir unterstützen auch  Rayana finanziell. Sie hat einen Diabetes mellitus Typ I und muß zweimal täglich Insulin spritzen. Medizinisch nicht wesentlich helfen können wir leider der kleinen Gulnaz, die mit einer Myelomeningocele auf die Welt gekommen ist. Im Lumbosacralbereich besteht ein pampelmusengroßer Tumor, beide Beine sind gelähmt. Der Vater hat die Mutter wegen der Mißbildung des Kindes verlassen, die junge Frau ist zu ihren Eltern zurückgekehrt, ist jedoch völlig mittellos. Das dreijährige Mädchen scheint recht intelligent zu sein, so daß wir uns bemühen, eine Schule in der Nähe seines Wohnortes zu finden. Es muß schon eine Privatschule sein, eine staatliche Schule macht sich nicht die Mühe, sich um ein einzelnes Kind zu kümmern. Für das monatliche Schulgeld (etwa 100/- Rs, also etwa 2/- € )wollen wir wohl aufkommen. Unsere Bemühungen sind noch im Gange.

Auch einen Platz in einer „Sonderschule“ braucht Shabana, ein geistig behindertes, etwa zehnjähriges Mädchen. Die Mutter kümmert sich intensiv um die Förderung des Kindes, obwohl Shabana nicht hören kann, kann sie ein bißchen sprechen. Sie ist außerordentlich kontaktfreudig und scheint sehr kreativ zu sein, so daß wir ihr gern eine weitere Förderung ermöglichen wollen. Aber eine „normale“ Schule kommt für sie nicht in Frage, ob die Aufnahme in eine Schule für geistig Behinderte klappt, stand bei meiner Abreise leider noch nicht fest. Ich bin aber sicher, daß die Mutter alles Erdenkliche tun wird, um Shabana einen Schulbesuch zu ermöglichen.

Zu den Problemkindern gehören mehrere Mädchen und Jungen, die an rheumatischem Fieber erkrankt waren und als Folge der damit einher gehenden Endocarditis eine Klappenstenose oder -insuffizienz zurück behalten haben. Der Befall von zwei oder gar drei Herzklappen ist gar nicht so selten! Da es den Kindern anfangs subjektiv ganz gut geht, sind die Eltern meist nur schwer von der Ernsthaftigkeit der Krankheit oder der Notwendigkeit einer Operation zu überzeugen. Auch die Zusicherung finanzieller Unterstützung hilft da nicht weiter. Es ist doch bisher so gegangen... Es ist doch nur ein Mädchen... Es ist niemand willens, das Kind ins Krankenhaus zu begleiten...  Äsa hä! So ist es...

Diese „Äsa hä – Mentalität“ ergreift uns manchmal auch, wenn wir mal wieder resigniert irgend etwas zur Kenntnis nehmen müssen! Doch die Unterstützung, die wir nicht zuletzt durch Sie genießen – ideell und finanziell – läßt uns immer wieder Mut fassen.

Wir wollen die Menschen dort nicht allein lassen, auch wenn die Umstände schwieriger geworden sind.

 

Ihnen allen Dank und die besten Wünsche zu Weihnachten und zum Neuen Jahr.

 

 

Marianne Jansen

 

 

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