Scan des Presseberichs aus dem Weser Kurier; Donnerstag 27. September 2001

Die Landärztin

Bremerin gibt ihre Praxis auf, um in Indien Dorfbewohner zu behandeln

Von Tina Haase
und Mike Szymanski
Familie Jansen aus Bremen hat die Landpraxis, das Khejri Sarvodaya Health Center in Indien, mit aufgebaut.
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wei mächtige Khejri-Bäume ragen in den wolkenlosen Himmel. Sie trotzen mit ihren tiefen Wurzeln Trockenheit und Temperaturen um 45 Grad - hier im nordindischen Bundesstaat Rajasthan. Für die Menschen, die im Dorf Jagatpura nahe der Landeshauptstadt Jaipur leben, symbolisieren die "Khejri" deshalb Kraft und Hoffnung. Marianne Jansen steht im Schatten der Bäume. "Wir haben unsere Praxis nach ihnen benannt", sagt die Bremerin und deutet auf einen Flachbau. Dort arbeitet sie als Landärztin. "Hier werde ich dringender gebraucht als in Deutschland." Vor gut einem Jahr hat die 57-Jährige ihre Praxis in Bremen aufgegeben, um Menschen in Jagatpura und umliegenden Siedlungen, die sich sonst keinen Arzt leisten können, ehrenamtlich zu behandeln. Marianne Jansen
Nur ein holpriger Sandweg führt zur Landpraxis, dem Khejri Sarvodaya Health Center. Am Wegesrand schlagen Bauern Getreide aus, das später mit Ochsenkarren transportiert wird. Ackerbau ist in Indien Schwerstarbeit. Der technische Fortschritt hat hier noch keinen Einzug gehalten. Inmitten dieser kargen Landschaft, in der die roten, grünen und blauen Saris der Frauen hervorstechen, steht die Praxis. Zu Fuß, mit Ochsen- oder Kamelkarren kommen Kranke aus den umliegenden Dörfern. In dem kleinen Vorraum wartet an diesem Vormittag etwa ein Dutzend Inder. Frauen halten Kinder in ihren den Armen. Die Kinder sind fast nackt, haben oft nur eine Unterhose an. Ein hagerer alter Mann liegt auf einer Bank. Vor Schmerzen verzieht er sein Gesicht. Die indische Krankenschwester spricht leise auf Hindi zu ihm. Bald darauf bringt sie ihm Tabletten. Die Landbevökerung im Bundesstaat Jaipur ist arm. Oft sieht man Bettler.
"Auf dem Lande ist die medizinische Versorgung katastrophal", sagt Marianne Jansen. "Die staatlichen Praxen sind einfach zu weit entfernt. Es mangelt an Medikamenten, und die Ausstattung mit Geräten ist schlecht." Die Behandlung in private Kliniken können sich die Menschen, die meist als Tagelöhner arbeiten, nicht leisten. "Das Geld reicht oft nicht einmal, um die Familie satt zu bekommen."
Vor sechs Jahren haben Marianne Jansen und ihr Mann Hans gemeinsam mit dem Inder T. K. N. Unnithan und seiner holländischen Frau Gerda begonnen, eine Praxis in dieser rückständigen Region aufzubauen. "Angefangen haben wir in einer 20 Quadratmeter großen Garage" sagt die Bremerin. Schnell sprach sich die Praxis herum, immer mehr Kranke kamen. Vor einem Jahr konnten die Ärzte einen neuen Flachbau beziehen, in dem eine kleine Klinik entstanden ist: Drei Behandlungszimmer, Labor und Wartezimmer - finanziert, wie auch die laufenden Kosten, durch Spenden aus Deutschland, Holland und anderen Ländern. Marianne Jansen und fünf indische Kollegen - zwei Allgemeinmediziner, Augen-, Frauen- und Hals-Nasen-Ohren-Ärzte - behandeln dort im Jahr bis zu 10 000 Patienten aus 35 Dörfern. Jeder zahlt, was er kann, mindestens aber 10 Rupien, umgerechnet 50 Pfennig. "Wer selbst das nicht hat, wird umsonst untersucht", sagt Marianne Jansen.
Anders als in Bremen, wo die Ärztin in der Klinik Holdheim Lungenpatienten operierte und später eine eigene Praxis eröffnete, versorgt sie in Indien vorwiegend Menschen mit Durchfallerkrankungen, Haut- oder Atemwegsinfektionen.
Ernster sind Tuberkulose-Fälle. "Das ist in Indien ein weit größeres Problem als Aids", sagt sie. Die Behandlung dauert mindestens ein halbes Jahr, doch viele Patienten brechen die Therapie ab. "Dagegen kämpfen wir an." Ein Sozialarbeiter ist regelmäßig in den Dörfern unterwegs, um die Bevölkerung über die Krankheit und die Ansteckungsgefahr aufzuklären.
Auch Marianne Jansen fährt in die Siedlungen. Sie geht in Schulen, untersucht Kinder und impft sie gegen Kinderlähmung, Diphtherie und Wundstarrkrampf. Eltern bringt sie bei, wie sie ihre Kinder für wenig Geld ausgewogen ernähren können, denn auch Unterernährung ist ein großes Problem. "Basisarbeit", sagt die Ärztin. "Die beginnt damit, den Leuten zu erklären, dass sie sich vor dem Essen die Hände waschen."
Blick in den Warteraum der Praxis
Auch mit Problemen ganz andere Art hat sie zu kämpfen. Mehrmals täglich bricht die Stromversorgung zusammen. Oft gehen für Stunden die Lichter aus und die Geräte im Labor stehen Still. Da es in Jagatpura kein Entsorgungssystem für Abfälle gibt, verbrennen die Mitarbeiter Verpackungen und Verbandsmaterialien hinter der Praxis. Metallteile, die übrig bleiben, werden vergraben. Von der Regierung kann die Bremerin nur wenig Unterstützung beim Aufbau der Klinik erwarten. "Man muss jemanden kennen, der jemanden kennt. Sonst passiert nichts." Die indische Bürokratie sei mehr ein Hindernis als eine Hilfe.
Marianne Jansen und zwei indische Krankenschwestern behandeln eine Leukämie-Patientin
Dass es für Marianne Jansen ausgerechnet Indien sein musste, hat eine 36-Jährige Geschichte. So lange liegt ihr erster Aufenthalt in dem Dritte-Welt-Land zurück. Ihr Mann Hans Jansen ging damals and die Universität von Jaipur, um Deutsch zu unterrichten. Sie begleitete ihn, studierte in Jaipur Medizin. "Ich war damals gerade 21 Jahre alt geworden und dachte, ich wäre ein zweiter Albert Schweitzer und könnte die Welt verbessern", sagt sie und lächelt dabei. Auch wenn sie zwei Jahre später nach Deutschland zurückkehrten: "Indien hat uns fasziniert und nie wieder losgelassen." Es verging kaum ein Jahr, in dem sie nicht dort waren, um Freunde zu besuchen oder dort zu arbeiten. Vor sechs Jahren hatten sie dann mit der Famiie Unnithan das Klinik-Projekt gestartet und in Bremen den Khejri-Verein gegründet, um Spenden zu sammeln. Gerda Unnithan machte das Projekt in Holland bekannt. In den Anfangsjahren hat Marianne Jansen ihren Urlaub genutzt, um in Jagatpura zu arbeiten. Im vergangenen Jahr gab sie ihre gut laufende Praxis auf. "Ich wollte mehr Zeit hier verbringen", erzählt sie. Jetzt wohnt sie in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung direkt neben der Klinik in Indien und kommt ein paar Wochen im Winter - und in den Sommermonaten, wenn die Temperaturen mitunter auf unerträgliche 50 Grad klettern, nach Deutschland.
Der Lohn für ihr Engagement ist die Dankbarkeit der Menschen. "Hier kann ich etwas bewegen", sagt sie und berichtet von einer Patientin, die seit Geburt nicht sehen kann. Das Mädchen muss in einer Augenklinik operiert werden, doch ihre Familie kann sich die Behandlung nicht leisten. Marianne Jansen will ihr das Augenlicht schenken. Die Operation kostet 75 Mark.
Spenden an den Khejri Verein Bremen: Plump Bank, Bankleitzahl 290 304 00, Kontonummer 760.